Lyrik

Kurzgeschichten in lyrischer oder anderer Form, die wertvolle Lebensweisheiten und -wahrheiten beinhalten, finde ich sehr beeindruckend. Sie motivieren, über das Leben nachzudenken, evtl. das Leben aus einer neuen, anderen Sichtweise zu sehen. Wenn wir die eine oder andere Geschichte öfter lesen, vermag sie immer wieder Neues auszusagen, je nach eigener Lebenslage und Bedürfnislage der Seele.
 
"Die Wüste weint" "Das Haus mit den goldenen Fenstern" "Alles ist Eins"
 
 
"Die Wüste weint"

Eine afrikanische Geschichte erzählt: Ein Missionar beobachtete das seltsame Gebaren eines Beduinen. Immer wieder legt sich dieser der Länge nach auf den Boden und drückt sein Ohr in den Wüstensand. Verwundert fragt ihn der Missionar: "Was machst du da eigentlich?" Der Beduine richtet sich auf und sagt: "Freund, ich höre, wie die Wüste weint: sie möchte ein Garten sein."

(Verfasser unbekannt)



"Das Haus mit den goldenen Fenstern"

Ein Mann lebte in einem kleinen Haus. Er konnte mit seinem Leben zufrieden sein, aber jeden Morgen kam er ins Schwärmen von einem besseren Leben. Da sah er nämlich aus seinem Fenster und starrte über das Tal hinüber zu einem Haus, das goldene Fenster hatte, die wie Diamanten leuchteten. Wie gerne würde er in einem solch schönen Haus wohnen. Der Gedanke daran faszinierte ihn so, dass er sich eines Tages zu dem Haus mit den goldenen Fenstern auf den Weg machte. Er nahm all sein erspartes Geld mit, um es vielleicht zu kaufen. Der Weg dorthin war äußerst beschwerlich und wie enttäuscht war er, als er feststellen musste, dass sein Traumhaus gar keine goldenen Fenster besaß, sondern ganz normale Scheiben hatte.
Erschöpft und enttäuscht setzte er sich in die Abendsonne und sah zurück zu seinem Haus. Und wie verwundert war er, als er im Glanz der Abendsonne erkannte, dass nun sein eigenes Haus goldene Fenster hatte.

(Verfasser unbekannt)



"Alles ist Eins" ("Einmal am Rande des Hains")

Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen
fühlen: Alles ist Eins.
Meine Seele spürt,
dass wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?
 
Halten uns fest umfasst;
Werden im lauschenden Lande
durch die weichen Gewande
wachsen wie Ast an Ast.
Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und: bald wandern wir weiter:
Tore gehen auf.
 
Wiegt ein erwachender Hauch
Die Dolden des Oleanders:
Sieh, wir sind nicht mehr anders,
und wir wiegen uns auch.
Und wir sind nicht mehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.
(Rainer Maria Rilke)
 
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